Versammlungen sind durch das Grundgesetz, konkret Artikel 8, besonders geschützt. In der Praxis muss das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit nichts desto trotz immer wieder gegen staatliche Behörden verteidigt werden. Insbesondere mittels Videoüberwachung greift die Polizei immer wieder in die geschützte Versammlungsfreiheit ein.
Im Versammlungsgesetz des Bundes (§12a) und auch des Freistaats Sachsen (§20) ist die Anfertigung von Bild- und Tonaufnahmen nur erlaubt „wenn tatsächliche Anhaltspunkte die Annahme rechtfertigen, daß von ihnen erhebliche Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung ausgehen“.
Trotzdem wurden und werden Versammlungen auch durch stationäre Videokameras der Polizei videografiert, wenn diese an jenen vorbeiziehen. In Leipzig betrifft dies die oft als Versammlungstreffpunkte und Routen genutzten Plätze am Hauptbahnhof, am Connewitzer Kreuz (1) und in der Eisenbahnstraße Ecke Herrmann-Liebmann-Straße.
Das Verwaltungsgericht Leipzig hat in diesem Jahr entschieden, dass die Videoüberwachung einer Demonstration im April 2019 am Connewitzer Kreuz durch die dort fest installierte Kamera rechtswidrig war. Es schlägt damit die Richtung des Oberverwaltungsgericht NRW ein, das in der ersten Jahreshälfte 2020 in zwei Urteilen die anlasslose Videoüberwachung von Demonstrationen / Kundgebungen durch stationäre Kameras die Polizei für rechtswidrig erklärt und die Polizeipräsidien Köln und Dortmund aufgefordert hatte, die entsprechenden Kameras während Kundgebungen und Demonstrationen für die Versammlungsteilnehmer*innen sichtbar zu deaktivieren ( https://ddrm.de/oberverwaltungsgericht-nrw-bestaetigt-erneut-anlasslose-videoueberwachung-von-demonstrationen-kundgebungen-durch-die-polizei-ist-rechtswidrig/).
Soweit ging das VG Leipzig nicht. Aber es hat infolge der mündlichen Verhandlung am 15. Juli 2020 im Sinne des Grundrechts auf Versammlungsfreiheit entschieden (Az.: 1 K 737/19). Das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit ist demnach im Rahmen der Gefahrenabwehr, welche die stationäre Videoüberwachung am Connewitzer Kreuz bezweckt, zu beachten. Die stationäre Videoüberwachung griff insofern in das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit ein und dieser Eingriff kann nicht unter Rückgriff auf das allgemeine Gefahrenabwehrrecht gerechtfertigt werden.
Eine pauschale, vom Einzelfall unabhängige Überwachung von Versammlungen inklusive Aufzeichnung und Speicherung, wie sie bei stationären Kameras geschieht, ist unzulässig und hat eine einschüchternde Wirkung auf Versammlungsteilnehmer*innen (siehe Urteil des Bundesverfassungsgerichts – 1 BvR 2492/08 (2)).
Das Leipziger Urteil (VG LE Az.: 1 K 737.19) ist inzwischen rechtskräftig.
Das Urteil des Verwaltungsgerichtes bedeutet, dass die stationären Polizeikameras in Leipzig in Zukunft bei Versammlungsgeschehen mindestens weggedreht, wenn nicht gar ausgeschaltet werden müssen.
Da ein proaktives Handeln der Polizei jedoch nicht zu erwarten ist, empfehlen wir Veranstalter*innen von Versammlungen, die im Blickfeld stationärer Videokameras staatlicher Behörden (3) stattfinden, im Rahmen von Kooperationsgesprächen mit Versammlungsbehörde und Polizei die Abschaltung, das Wegdrehen bzw. Verdecken der Kameras einzufordern, und wenn dies nicht geschieht sich bei uns zu melden.
1 Vor dem Verwaltungsgericht Leipzig ist darüber hinaus die Klage eines Ladengeschäfts anhängig, mit der die stationäre Videoüberwachung am Connewitzer Kreuz grundsätzlich infrage gestellt wird. Diese wird am 27.1.2021 am Verwaltungsgericht Leipzig stattfinden.
2 Das Bundesverfassungsgericht urteilte 2009 zur anlasslosen Videoüberwachung von Versammlungen: „Das Bewusstsein, dass die Teilnahme an einer Versammlung in dieser Weise festgehalten wird, kann Einschüchterungswirkungen haben, die zugleich auf die Grundlagen der demokratischen Auseinandersetzung zurückwirken. Denn wer damit rechnet, dass die Teilnahme an einer Versammlung behördlich registriert wird und dass ihm dadurch persönliche Risiken entstehen können, wird möglicherweise auf die Ausübung seines Grundrechts verzichten.“ https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2009/02/rs20090217_1bvr249208.html
3 Antwort auf Kleine Anfrage Stationäre Videoüberwachung an öffentlichen Orten in Sachsen 2020
Update 13. Januar 2021:
Das Sächsische Innenministerium zieht Konsequenzen aus dem Kameraurteil.
Nach Antwort auf die Kleine Anfrage Drs 7/4870 hat das Innenministerium die „unmittelbar angesprochenen Polizeidirektionen“ per Erlass am 10.12.2020 instruiert, dass Versammlungen aus dem Blickfeld stationärer Kameras der Polizei auszunehmen sind. Dafür sind geeignete technische Maßnahmen zu treffen, wie:
– die Beschränkung des Aufnahmebereichs durch Wegschwenken oder Absenken des Kameraobjektivs,
– das vorübergehende Ausschalten einer oder mehrerer Kameras,
– das vorübergehende Anbringen einer Blende vor dem Kameraobjektiv.
Eine Verdeckung der in Frage kommenden Polizeikameras in Sachsen ist laut sächsischen Innenministerium „nach den technischen Ausrüstungen der Kameras derzeit nicht möglich“. Dies scheint fadenscheinig. So oder so: Sprecht das Thema im Rahmen der Anmeldung und Durchführung von Versammlungen an und fordert das Unterlassen von Videografie sowie Belege, dass die Polizei den Anweisungen des Innenministeriums nachkommt.
Im Übrigen wurde die Verhandlung über die grundsätzliche Zulässigkeit der polizeilichen Videoüberwachung am Connewitzer Kreuz, geplant für den 27.1.2021 am Verwaltungsgericht Leipzig coronabedingt verschoben.